Putumayo Presents:

Acoustic Brazil

 

EXIL 5680-2 / LC 08972 / VÖ: 21.2.2004 / DISTRIBUTION: INDIGO

Spätestens seit der Bossa Nova weiß die Welt, dass Brasiliens Musik auch mit leisen Qualitäten aufwartet. Die grellen und lauten Samba-Paraden, die wuchtigen Erschütterungen der Trommler Bahias — das ist nur die extrovertierte Seite eines Landes, dessen Musikstile ein ganzes Universum umfassen. Schon immer gab es auch in Brasilien das intime Musizieren: Der Choro, die Musik des alten Rio, feierte akustisches Instrumentarium wie Flöte, Klarinette, Gitarre, Cavaquinho und Handperkussion, im Samba auf den Hügeln Rios setzte sich das Konzertieren im vertrauten Kreise fort. Als unten in der Stadt der pathetische und bombastische Samba Canção in den 1950ern endgültig ausgedient hatte, besann sich die Jugend auf leichtfüßigere, unbeschwerte Zeilen und eine raffiniert verfeinerte Gitarrenrhythmik — die Bossa Nova war geboren. Und bei allem provokanten Bildersturm konnten auch die Tropikalisten der anschließenden Epoche niemals eine Ballade ausschlagen. Die junge Generation brasilianischer Künstler setzt den stillen Seitenstrang fort: Rockeiros und die Vertreter der DJ Culture suchen immer mal wieder die Piano-Töne und minimalistische Abwechslung, während Zugereiste aus dem Nordosten folkloristisches Handwerk in den Metropolen auch ohne elektrische Aufmotzung weiterspinnen. Vom Amazonas bis hinunter nach São Paulo feiert Putumayo mit all diesen Künstlern - großen Namen sowie absoluten Neutönern - die feinen Zwischenspiele im brasilianischen Klangkosmos.

Eine der Musen der Música Popular Brasiliens schmeichelt sich gleich zu Anfang ins geneigte Ohr. GAL COSTA zählt zu den Protagonistinnen des Tropicalismo, jener aufmüpfigen Spätsechziger-Bewegung, die unter der Militärdiktatur psychedelisches Hippietum mit provokanten Klangcollagen, Bossa-Erbe mit westlichem Pop und Rock zu einer hymnischen Neubestim-mung der brasilianischen Jugend verfugte. Neben Gilberto Gil und den Geschwistern Caetano Veloso und Maria Bethânia stellte die sinnliche Stimme der Costa den vierten markanten Eckpunkt der Doces Barbaros, der Tropikalisten-Supergroup schlechthin. Danach war sie stets äußert erfolgreich solo am Werke, mit Klassiker-Alben, die sich zwischen Easy Listening und funkigem Pop ansiedelten. "Aquele Frevo Axé" ist das Titelstück ihres 1998er-Opus und greift eine wenig bekannte Bossa aus der Feder von Caetano auf. "Die Sterne werfen ihr Abendlicht über die schwarze Bucht und ich wünsche so sehr, dass Du bei mir wärst", schmachtet Gal im zurückgelehnten Arrangement mit gestopfter Posaune und zarter afro-brasilianischer Perkussion.

Wer Portela sagt, der muss im gleichen Atemzug PAULINHO DA VIOLA nennen. Der Sambista ist seit langem mit der führenden Samba-Schule Rios verbunden und führte sie 1966 gar mit einer seiner Kompositionen zum Sieg in der Karnevalsparade. Nicht nur bei ihnen gilt er als der "Samba-Prinz". Als Sohn des Choro-Musikers César Faria von der berühmten Truppe Época De Ouro sog er den Samba und seinen Vorläufer, den Choro, an und in seiner Wiege auf. Legendäre Kneipen wie das Zicartola frequentierte er schon als Jüngling, verkehrte wie selbstverständlich mit der Prominenz von Pixinguinha bis Cartola. Da Viola steht für die intime Hinterhof-Variante des Samba von den Hügeln, seine Popularität reicht aber bis in Brasiliens Pop hinein: Marisa Monte zählt zu den zahlreichen Stars, die seine Lieder gecovert haben. Hier erzählt er, dass der Samba "A Voz Do Povo" (die Stimme des Volkes) ist. "Ich bin die Blume, die der Wind auf den Boden gezerrt hat, aber eine Knospe bleibt immer noch übrig, so dass eine neue Blume gedeihen kann", so das typisch bittersüße Resümee dieses Stückchens, das auf einer Tribut-CD für João Batista do Vale zu finden ist, den großen Verschmelzer des Samba mit der Musik des brasilianischen Nordostens.

Brasilien ist wohl das Land der musikalischen Familienangelegenheiten schlechthin, und ANA DE HOLLANDA gehört einer der prominentesten Dynastien des Landes an: Bruder Chico Buarque zählt mit seiner Schwester Miúcha zu den MPB-Giganten seit den 1960ern, Tochter von Míucha und Bossa Nova-Erfinder João Gilberto wiederum ist die zur Zeit so erfolgreiche Bebel Gilberto. So weit zur Genealogie, deren Frau Hollanda eigentlich gar nicht bedürfte, ist sie doch eine Größe auch ohne die familiäre Stütze. Gleichermaßen Schauspielerin wie Sängerin, hat die Künstlerin mit Jobim und Poet Vinicius de Moraes kollaboriert, machte sich jedoch mit der Aufnahme von nur drei Alben im Bezug auf Tondokumente eher rar. Umso schöner, dass wir sie hier mit einem "Samba Triste" genießen können, der ihre feinfühligen Vokalisen in ein schlicht-bezauberndes Gefüge aus Ukulelen-Begleitung und wendigen Klarinettenschleifen bettet. Die Komposition stammt vom Sambista Paulo Vanzolini aus São Paulo.

MÁRCIO FARACO führt akustische brasilianische Musik im Exil zur Meisterschaft. Der Nachwuchssänger stammt aus der südlichen Stadt Alegrete und wurde als Knabe vom Vater in der Gitarrenkunst unterwiesen. Da der große Durchbruch in der Heimat auf sich warten ließ, wechselte Faraco 1992 seinen Wohnort und fand in Paris seine zweite Heimat, die ihn — auch künstlerisch — wohlwollend aufnahm. 2000 erschien sein Debüt, das er nach einem beliebten Kreistanz aus dem Nordosten "Ciranda" getauft hat. Im Titelstück erfüllte sich ein Traum: Faraco bekam Studiobesuch von einem seiner größten Idole, Chico Buarque.

Studiert man die Ankündigungen der lokalen Choro- und Samba-Szene Rios im Viertel Lapa und Santa Teresa, dann fällt immer wieder ihr Name auf: TERESA CRISTINA tummelt sich rührig bei den spontanen Kneipenkonzerten, die in der Zuckerhut-Metropole seit einigen Jahren boomen und die akustische Spielart des Samba und seines Vorvaters, den Choro, zelebrieren. Dabei betreibt sie ihre Auftritte nur als Zubrot und verdient ihren Lebensunterhalt als Kosmetikerin oder Sekretärin. "Meu Mundo É Hoje (Eu Sou Assim)" ist ihrem exzellenten Tribut an Mitstreiter Paulinho Da Viola entnommen, das sie 2002 mit ihrer Gruppe Semente einspielte und das in Rio heiß und innig geliebt wird. Zugleich erinnert es an eine der großen Samba-Legenden der 1930er bis 1960er, Wilson Batista, aus dessen Feder diese Perle einst geflossen ist.

Neben Antonio Carlos Jobim, Vinicius de Moraes und Caetano Veloso rangiert er sicherlich schon jetzt im Olymp der größten brasilianischen Musikpoeten des 20. Jahrhunderts — auch wenn er glücklicherweise noch fidel unter uns Lebenden weilt. Seit 40 Jahren tut sich CHICO BUARQUE mit geschliffenen Worten im Samba- , Bossa- und MPB-Fach hervor, Schulkassen und Studenten analysieren seine Poesie und über seine Werke in Buchform werden ganze Seminare abgehalten. Doch Buarque ist kein Intellektueller in einem Elfenbeinturm. Sein Charme und die jedem zugängliche Melodik seines Schaffens machen ihn zu einem der Lieblinge der brasilianischen Musik. Ironie, tragisch-bittere Elemente, Romantizismen und feinsinnige Sozialkritik — alles vereinigt sich in seiner Kunst zu einem großen Ganzen. Hier interpretiert er — wie seine Schwester — einen Samba von Paulo Vanzolini: "Ich werde viele Feinde zurücklassen, denn ich war stets aufrichtig, an meine Brust habe ich so viele tränenerfüllte Gesichter gedrückt."

RITA RIBEIRO ist eine alte Bekannte bei Putumayo. Das "Sunny girl" aus dem hohen Norden Brasiliens, aus dem Staat Maranhão, hat eine ganz unverwechselbare Tinktur aus der Folklore ihrer Heimat und neuen Perspektiven gezaubert und an der Seite der Kollegen Chico César und Zeca Baleiro für die Emanzipation des Nordens in der Großstadt São Paulo gesorgt. Ihr Tropenpop mit Reggae, Funk und einem in den örtlichen Festen ihrer Region verankerten Habitus begeisterte uns auf Pérolas Aos Povos, dem Opus, das sie für Putumayo einspielte. Hier allerdings bekommen wir einen Einblick in ihr relativ unbekanntes Debütwerk von 1997: "Tem Quem Queira" vereint in liedhaft-unbeschwerter Art afrikanische Elemente mit der Beigabe von portugiesischem Wurzelwerk.

Grandseigneur, Charmeur und Innovateur — der vielgesichtige CAETANO VELOSO hat nach der Bossa-Phase wie kein anderer das moderne Gesicht der brasilianischen Popmusik geprägt. Seine weltweit wohl einmalige, so wandel-bare und einfühlsame Stimme logiert in großartigen Liebeshymnen genauso prächtig wie in spöttelnden Protestsongs. Von tropikalistischen Klangexperimenten über astreine Popsongs bis zu bezwingenden Wiegenliedern beherrscht der mit über 60 Jahren immer noch jugendliche Altmeister alle Domänen. Für das Akustisch-Abenteuer hat sich der Bahianer die Nummer "Cajuina" aus seinem Klassiker Cinema Transcendental von 1979 ausgesucht, in dem sich raffinierte existentialistische Poesie mit wiegender Nordost-Rhythmik paart — und das flinke Akkordeon steuert der Meister seines Faches, Dominguinhos, bei.

Wir haben aus unserer tiefen Verehrung für sie nie ein Geheimnis gemacht: Die in São Paulo wirkende Sängerin MÔNICA SALMASO ist mit einer der wunderbarsten Stimmen Brasiliens gesegnet. Sie filtert die Essenzen nahezu sämtlicher Stile des Tropenlandes heraus, macht sich Samba, die Lieder Bahias oder die Rhythmen des Hinterlandes zu eigen, fängt selbst Amazonisches ein. Sie zelebriert folkige Luftigkeit, ergeht sich aber auch in melancholischer Mystik. Voadeira hieß vor zweieinhalb Jahren das Werk, das geradezu pan-brasilianisch die lyrische Seele des Landes feierte. "Moro Na Roça" (Ich lebe auf dem Land) kommt nun schon von ihrem Nachfolgewerk Iaiá, und damit zieht die Frau aus São Paulo den Hut vor der Samba-Diva Clementina De Jesus — und zugleich vor dem Partido Alto-Stil, in dem sich der Refrain mit Gesangsimprovisationen abwechselt.

In der Galerie der eher modernen brasilianischen Garde spielt sich das nächste Klangtableau ab. Mit "Mensagem De Amor" wird eine Komposition von Herbert Vianna aufgegriffen, dem genialen Songschreiber der Rockband Paralamas Do Sucesso, der nach einem schweren Unfall mit eisernem Willen ins Musikbusiness zurückkehrte. Interpret ist LUCAS SANTTANA aus Bahia: Er begann als Flötist in Sessions mit Gilberto Gil und Caertano Veloso, später tastete er sich durch die Zusammenarbeit mit Chico Science und Arto Lindsay an die kreative Avantgarde Brasiliens heran. 1999 erschien sein Debüt, das ihn neben seiner Vorliebe für Electronica, Funk, Soul und Rock auch als Balladensänger auswies — vorliegende Einspielung beweist es.

"Zwischen den Lippen ankert eine Blume, ein Kuss aus Satin beruhigt die Luft, dahingeschmolzen in Flammen" — zu solch sinnlichen Zeilen, wie sie hier mit "Lábios De Cetim" erklingen, gehört auch eine entsprechende Stimme. GLAUCIA NASSER ist da die richtige Kandidatin und gehört wohl zu den absoluten Entdeckungen dieser Scheibe. Die Newcomerin hält die poetische Tradition des Staates Minas Gerais empor, die seit den lyrischen Meisterwerken ihres wohl berühmtesten Kindes, Milton Nascimento, über Brasilien hinaus bekannt wurde. Nassers Debüt erschien erst kürzlich und wir sind gespannt auf weitere akustische Kleinode, wie sie sich in dieser Ballade vielversprechend ankündigen.

Ein unorthodoxes Duo versüßt uns den Abschied von der Unplugged-Exkursion: LULA QUEIROGA hat schon 1983 mit dem enfant terrible des modernen brasilianischen Songwritings, mit Lenine, sein Debüt eingespielt. Der Lieder-macher und Produzent aus Pernambuco hat dann erst 2001 Zeit für seine zweite Scheibe gefunden, die den merkwürdigen Titel Abolando A Vaca Mecánica (Die mechanische Kuh antreibend) trägt und aus dem wir hier "Noite Severina" vorfinden. In der experimentell-minimalistischen Verarbeitung nordöstlicher Rhythmik gesellt sich Pedro Luis hinzu, der normalerweise mit seiner Band A Parede mit Rock, Ska und Rap die aktuelle Szene Rios aufmischt.

Zartbesaitete Choro-Klänge, bittersüßer Kneipen-Samba, große Lyrik zu sanften MPB-Arrangements und experimentelle Pröbchen vereinen sich hier zu einer hochinteressanten Brasil-Scheibe, die einen verblüffenden Mittelweg zwischen knalligem Samba-Trommeln und süßem Bossa-Säuseln gefunden hat.

 

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