Barcelona Raval Sessions

EXIL 4277-2 | LC 08972 | VÖ: 05.04.2004 | DISTRIBUTION: INDIGO

Sie ist derzeit das unbestrittene Mekka der Weltmusikgemeinde — Barcelona, mediterranes Metropolistan und kreativer Siedekessel Katalaniens, vibrierende, pulsierende Nahtstelle der Kulturen und zurecht Königssitz der música mestiza. Was mit Manu Chao begann, hat sich seit einigen Jahren in ein schallendes Neben- und Miteinander aufgefächert: Mittelmeer und Maghreb, Afrika und Lateinamerika, Tradition und Progression. Römer, Westgoten, Mauren und Franken haben die Stadt geprägt, und daher ist ihr Menschen-Mix und ihr Freigeist schon historisch verwurzelt. Doch innerhalb der ohnehin schon brodelnden Kapitale steht ein Mikrokosmos als besonderes Symbol für die Durchtränkung mit globalem Flair, für reales und virtuelles Migrantentum: Raval. Dort kollidieren soziale und kulturelle Verwerfungen am heftigsten, arbeitet die Tektonik aus katalanischem Mestizen-Rock, Zigeuner-Rumba, Raï, Reggae & Dub, Latin-Rhytmen und Afro-Groove auf engstem Raum. Wer nie nächtens durch Bacelonas aufregendstes Viertel gelaufen ist, kann diese spezielle Atmosphäre nicht nachvollziehen. Konnte — muss man sagen, denn nun hält er Einzug in unsere vier Wände, der unglaubliche Soundtrack aus dem Epizentrum modernen Mestizentums. Die Barcelona Raval Sessions legen ein Gewirr an Stimmen und Stimmungen offen, präsentieren Club-Beats und Kneipen-Schwof, trancigen Dub-Taumel und ausgelassene Ska-Party, 1001 Schattierungen vom Balkan bis in die Karibik. Einheimische Heroen wie Ojos de Brujo und Cheb Balowski geben sich die Klinke in die Hand mit angesagten Tracks aus allen Kontinenten, vom Asian Underground bis nach Westafrika, unters Volk gebracht von den Raval-DJs oder den Lautsprechern der Bodegas. Dazu gesellen sich nostalgische Hymnen aus der lokalen Musikhistorie. War die 2002 erschienene Doppel-CD Barcelona Zona Bastarda ein lebendiger Katalog der aktuellen "Barna"-Bands, fangen diese Sessions den nervösen und schwülen Herzschlag, die Gerüche und Farben des Barrios in Echtzeit ein. Nach 140 Minuten wird mancher schwören, er wäre leibhaftig dort gewesen.

Was für Paris das Barbès, für Berlin sein Kreuzberg, das ist der katalanischen Metropole ihr Raval. Das knapp bemessene, im Süden den Hafen, im Norden fast die Uni berührende Altstadtareal voller uralter, hochhackiger Mietskasernen teilen sich Katalanen und Spanier mit den vielen Zugezogenen aus Pakistan, dem Maghreb und aus Lateinamerika. "Das Viertel brodelt, man kann es atmen und auf der Haut spüren", weiß eine Ravalera zu berichten und auch, wo in diesem Melting Pot "die wirklichen Sessions" zu finden sind: "Auf den Musikkassetten, die mir die Pakistanis unten im Supermarkt leihen; beim gemeinsamen Essen mit Nachbarn, beim Begrüßen des Apothekers, beim Plausch mit der Frau vom Kiosk. Kinder aller Hautfarben, die morgens den Bürgersteig vor der Schule bevölkern. Sie alle sind das Raval. Ich stehe darauf, Ravalera zu sein!"

Nicht erst mit den jüngeren Immigrationsbewegungen im post-olympischen Barcelona sondern schon viel früher in seiner wechselvollen Geschichte übte sich dieses "barrio mutante" im - mehr oder weniger - fröhlichen Nahkampf. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts platzte das Raval durch den starken Zuzug von Arbeitssuchenden aus der spanischen Provinz, insbesondere Andalusien, fast aus den Nähten. Nicht zum Arbeiten sondern aus reinem Vergnügen zog es die Matrosen ins Viertel, das gemäß seinem Namen auch Rotlichtbezirk war. Als Ende der 1970er Jahre, also nach Francos Tod, das Heroin in Spanien salonfähig wurde, machte es natürlich auch ums Raval keinen Bogen. 1988 begann man mit Blick auf die Olympiade das Sorgenkind herauszuputzen; man riss ganze Häuserzeilen ab und zog neue Wohnblöcke hoch. Zugleich sorgte man durch soziokulturelle Projekte und Einrichtungen für frischen Wind im Viertel, kümmerte sich um die Förderung der diversen urbanen Parallelkulturen.

Das friedvolle und zugleich anregende Miteinander disparater Atmosphären und Kulturen lassen die vorliegenden 32 Tracks spüren: Mit dem lebensnahen Soundtrack des Raval kann der Hörer in den Mikroorganismus des Barrio hinabtauchen, förmlich seine Geräusche, Gerüche und Farben aufsaugen, sich als neugieriger Beobachter an die Vielzahl der spannenden Handlungsstränge heften, die das Viertel zu erzählen hat. Ähnlich den Ornamenten, mit denen die Fotos im Plattencover überzogen sind, ähnlich der Koexistenz der rastenden Muslima neben dem tobenden Skater, schichten sich im Raval die verschiedenen musikalischen Traditionen Nord- und Schwarzafrikas, Asiens und Lateinamerikas übereinander, wehen die Sounds und Düfte durch die Straßen, durch die kribbelbunten Ramsch- und Lebensmittelläden, die vielen Internetcafés und Kioske.

Im ersten Kapitel ist man vor allem den musikalischen Kindern des Raval auf den Fersen, um dann gemeinsam mit ihnen im zweiten Kapitel zu den Seelenverwandten in aller Welt aufzubrechen. Die Nase vorn bei diesem wohlklingenden Kultur-Clash hat ein hausgemachtes Projekt eines Barcelonaer DJs mit spanischen Musikern und in Katalonien ansässigen Raï-Sängern. 08001, so ihr vermeintlich kryptischer Name, bezieht sich direkt auf das Raval, denn die Nummer ist seine Postleitzahl. Das kürzlich erschienene Debüt "Raval ta Joie" holt sich mit Reggae und Dub, Flamenco und Rai, Elektronik und TripHop alle quasi vor der Haustür zu findenden Stile ins Boot. Die Verbindung zu dem ein paar Tracks später anzutreffenden, ebenfalls auf Dub und Reggae eingetakteten FERMIN MUGURUZA ist direkt hergestellt, besucht doch der baskische Sänger häufig seine vielen Musikerfreunde in Barcelona. Zwischen diesen beiden Klangpolen Iberiens geht man auf groovigen Zickzack-Kurs durch katalonische, karibische und maghrebinische Gefilde. Man macht Zwischenhalt bei der Elektro-Latin-Band POLVOROSA, die von Chile aus über Hamburg ihren Weg durchs Mittelmeer nahm, bei der jungen Katalanen von WESAK, die in ihrer Musik den Schulterschluss suchen zwischen katalanischem Folk, Flamenco und orientalischer Musik, sowie bei besagtem DANI von MACACO, der sich wiederum mit Manu Chaos Leib- und Magentrompeter Roy Paci und dessen BANDA IONICA auf einen romantisch-melancholischen Trauermarsch verabredet hat. XERRAMEQU TIQUIS MIQUIS sind ein gerade ausgehecktes Projekt mit Ex-Musikern von Dusminguet, die eine auf katalanisch gesungene Mixtur aus Rumba, Rock und Electronica fabrizieren. Mit Funk, Jazz und Soul arbeiten die Rapper der SOUL SHAKERS aus Palma de Mallorca, wie auch der algerisch-katalanische Verbund CHEB BALOWSKI. Den wirbelnden Schlusspunkt unter den Einheimischen setzen OJOS DE BRUJO, mit ihrem HipHop Flamenquillo musikalische Idole der ganzen Stadt und frischgebackene Preisträger des BBC Radio 3 World Music Award 2004.

Auf Vol. 1 wurde schon hier und da offenherzig fremdgegangen: Etwa mit dem pan-arabischen Rapper CLOTAIRE K., dem Übervater aller modernen Raï-Crooner KHALED, der franko-algerischen Frauenband KWEEN KAHINA oder der ODESA KLEZMER BAND, der ungarischen Antwort aufs Mestizentum. Doch in der zweiten Session-Sektion ziehen die Erdball-Exkursionen größere Kreise.

Durchaus mühelos gestaltet sich zunächst der Wechsel in die Folge-Episode. Denn man zelebriert zunächst die Rumbera DOLORES VARGAS, und auch EL NOI propagieren die latin- und flamenco-inspirierte Rumba Catalana, quasi die erste Weltmusik katalanischer Provenienz. Die Fortsetzung des Raval-Ausflugs begibt sich auf die Suche nach den musikalischen Spuren und Inspirationsquellen des Bario überall auf der Welt. Dabei führt kein Weg vorbei am Party-Knaller Nr. 1 überall zwischen Barcelona, Paris und Berlin, "Premier Gaou" des MAGIC SYSTEM von der Elfenbeinküste. Dazu wird waschechter Roots-Reggae des Jamaikaners NAGGO MORRIS angeliefert, man stoppt an exotischen Stationen aus dem Bhangra- bzw. Asian-Kontext, wie MALKIT SINGH oder TJ REHMI. Des weiteren fixiert man Leitsterne des maghrebinischen Klangkosmos, die gerade den Landsleuten in der Diaspora den Weg leuchten. Da wären die von Paris aus agierenden Musikerkollektive LA KEMIA und RERSERV, in denen auch Musiker vom Orchestre National De Barbès mitmischen oder der Wahl-Barcelonaer ABDELJALILl KODSSI aus Marokko, hauptberuflich Sänger der Gnawa-Band Nass Marakech. Schließlich auch sein in Montpellier ansässiger Landsmann, der Rapper Habib Dechraoui von BOSS PHOBIE, der im Gypsy-Gespann die unguten Veränderungen seines Viertels anprangert und mit kritischem Tenor zum Ausgangspunkt der Klangkreuzfahrt zurücknavigiert. Gewidmet ist die Doppel-CD zwei gebürtigen Ravaleros, die bereits alle früheren Miss- und Wohlklänge im Kiez wachsam notiert haben: den beiden im letzten Jahr verstorbenen Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán und Terenci Moix.

Die Barcelona Raval Sessions - ein in der Weltmusik-Geschichte selten so zwingend umgesetzter Streifzug, der die engen Gassen eines Barrios verwebt mit den Schauplätzen aus aller Welt, die in ihm Einzug gehalten haben. Ausschließlich kompiliert aus erlesenen Tracks von Independent-Labels und unterstützt von vielen interkulturellen Institutionen.

 

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