Chico César

Respeitem Meus Cabelos, Brancos

("Respektiert meine Haare, Ihr Weißen!")

EXIL 2645-2 | LC 08972 | VÖ: 16.06.2003 | DISTRIBUTION: INDIGO

"Wenn ich sage: ‚Respektiert meine Haare, Ihr Weißen!(’hes'petëi 'meus ca'belus 'brancos), dann geht es dabei nicht nur um mich, auch muss man das nicht im wörtlichen Sinne nehmen. Die Haartracht ist eine Metapher für uns alle, unsere Rasse, unsere Generation, wir als Leute mit unseren eigenen Ideen. Der Kampf darum, unabhängig und kantig zu bleiben. Als ob jemand sagen würde: ‚Respektiert die Dinge, die sich immer weiterentwickeln, um mich einzigartig zu machen’. Und ich spreche dabei als ein Künstler aus dem Nordosten Brasiliens, ein Nachkomme von Afrikanern, Indios und Weißen. Es geht nicht nur um die heute so vielzitierte Toleranz — es geht um Respekt."

Mit diesen starken, selbstbewussten Worten stellt eine der derzeit schillerndsten Gestalten in Brasiliens Popularmusik ein neues Werk vor. Auf seinem fünften Album hat Francisco César Goncalves alias Chico César die perfekt austarierte Balance zwischen gewitzter, anspruchsvoller Poesie und Reggae do Brasil, zeitgenössisch gekleideter Folklore des Nordostens sowie bezwingenden, romantischen Liebesballaden geschafft. Der 39jährige, dem in Deutschland seit einigen Jahren schon die Begeisterung des Fachpublikums sicher ist, dürfte sich damit endgültig auf Augenhöhe mit seinen ganz großen Landsmännern Caetano Veloso und Gilberto Gil befinden.

Für alle, die mit der Historie des quirligen und unberechenbaren Pop-Poeten noch nicht vertraut sind — hier sei sie nochmals kurz erzählt:

Catolé de Rocha ist der klangvolle Name des Nestes, in dem er im Januar 1964 das Licht der Welt erblickt. Seine Heimat Paraíba, ein kleiner Bundesstaat südlich der Nordost-Nase des südamerikanischen Kontinents, ist arm und staubtrocken, reich allerdings an Musik. Die Volksfeste der Region, untermalt von afro-brasilianischen Rhythmen wie Maracatú oder dem akkordeongeprägten Forró, begleiten ihn als Kind. Er saugt die Eindrücke der Feierlichkeiten und Prozessionen auf, in denen sich schwarze, indianische und portugiesische Religion begegnen und die besonders in der heißen Weihnachtszeit mit den Folias dos Reis ihren alljährlichen Höhepunkt finden. Schon im zarten Alter bekommt er Lust, es dem bis dato berühmtesten Sohn Paraíbas gleichzutun, Jackson Do Pandeiro, der in den Fünfzigern Brasiliens erster Popstar wurde.

"Mit acht Jahren hatte ich schon eine Art Tanzband und etwa zur gleichen Zeit fing ich an, in einem Plattenladen zu arbeiten. Der Job dort hat mich zusätzlich motiviert, Musiker zu werden. Mich faszinierte die soziale Macht, die ein Musiker besitzt, aufgrund der persönlichen Unabhängigkeit", erinnert sich Chico César an seine Adoleszenz. Mit einer Formation namens Grupo Ferradura tingelt er durch den gesamten Staat, um seine Eigenkompositionen zu präsentieren. Bald zieht er jedoch in die Hauptstadt João Pessoa und entdeckt dort durch neue Freunde die breite globale Palette von Wortkunst und avantgardistischer Musik. Mit achtzehn startet er in die journalistische Arbeit, die ihn schließlich nach São Paulo führt, seinem Basiscamp bis heute: "Mein erstes Interview hatte ich gleich mit Nara Leão, der Muse der Bossa Nova! Später habe ich dann Polit-Interviews mit Ministern der Regierung geführt und Platten aller Art bis hin zum James Bond-Soundtrack rezensiert. Und zuletzt war ich sogar im Team des Mode-Magazins Elle."

Als der Journalist, der jedoch nie von der Musikausübung gelassen hatte, 1991 zum ersten Mal nach Deutschland kommt, um auf Einladung einer Freundin beim renommierten Tübinger Festival Viva Afro Brasil zu gastieren, stößt er sofort auf Begeisterung bei Publikum und Presse. "Deutschland hat mir bewusst gemacht, dass ich es auch in Brasilien als professioneller Musiker schaffen könnte. Aber noch etwas anderes hat mich geleitet, denn damals hörte ich erstmals Salif Keita, der mich ungeheuer beeindruckte. ‚Wie kann jemand so eng verbunden sein mit seinem Ursprung und trotzdem mit Elektronik und Schlagzeug Musik machen? Das sollte ich doch auch versuchen!’, dachte ich mir." Als Schreiberling schmeißt Chico César kurzerhand das Handtuch und widmet sich fortan nur noch seinen klanglichen Kreationen. Aos Vivos (1995), eine mittlerweile kultige Live-Rarität, die er teils mit dem Pernambucaner Lenine eingespielt hat, wird seine erste Veröffentlichung. Doch dem Unplugged-Charakter dieser frühen Session stehen die beiden nachfolgenden Alben gegenüber, die seinen Ruhm

begründen: Cuscuz Clã (1996) und Beleza Mano (1997), deren Greatest Hits auf der Chico César Collection von Putumayo (2000) zuammengefasst wurden. Sie beinhalten den Samba-Reggae-Ohrwurm "Mama Africa" und die wunderschöne Ballade "A Primeira Vista", die die Bahia-Ikone Daniela Mercury wenig später zu übernationalen Hit-Ehren führen wird. Und ganz nebenbei präsentieren sie ein bis dato nicht da gewesenes Konglomerat von Stilelementen aus dem Kosmos der Música Popular Brasileira: Zwischen Funk, Reggae, Beatles-Anleihen und folkloristischen Rhythmen wie dem Forró, Baião, Coco und Carimbó, indianischen Pfeifen, Kolorierungen aus der karibischen Nachbarschaft und der Embolada, jenem brasilianischen Urvater des Rap, pendeln die Songs, die vor Wortwitz strotzen: "Ich stehe in der oralen Tradition des Nordostens, wo das gesprochene Wort sehr wichtig ist", bemerkte César zu seinen Textschöpfungen damals. Ich liebe die poesie concrète der Dichter aus São Paulo, aber auch die Dichtung von Tom Zé, von Caetano Veloso, Gilberto Gil. Selbst ganz früh, bei den Samba-Komponisten der Dreißiger wie Noel Rosa war diese Feinfühligkeit fürs Wort schon vorhanden. Die Wortkunst ist stets sehr präsent in der brasilianischen Pop-Musik." Die poetische Strahlkraft, gepaart mit der zeitgenössischen Aufbereitung regionaler Farben — das macht die Magie des Chico César aus. Und das internationale Konzert-Publikum kann in immer mehr Ländern Zeuge von außergewöhnlichen Manifestationen eines neuartigen, farbenprächtigen Brasil-Pops ohne Klischees werden, wenn der Einmetersechzig-Mann mit dem kugeligen Charakterkopf abwechselnd in Kostümen aus der Candomblé-Religion oder japanischen Motorradstiefeln über die Bühne fegt. Innerhalb kurzer Zeit wird César ebenso zum begehrten Songschreiber für viele inländische Größen von Maria Bethânia bis Rita Ribeiro (EXIL 6/2000).

"Brasilien heißt nicht ausschließlich: Sonne, Strand, wenig Wäsche", verkündet er. "Ich setze mich dafür ein, dass es als ein Land mit mehr Innerlichkeit gesehen wird, denn wir sind auch sehr tiefgründig und nach innen schauend." Die Introspektive wird auf seinem nächsten Album "Mama Mundi" weitergeführt. Jazziges und Orchestrales verschmilzt mit asiatischen und westafrikanischen Intarsien, jedoch ohne die regionalen Aspekte auf dem Altar eines Weltmusik-Mischbreis zu opfern. "’Weltmusik’ ist ein problematisches Wort", philosophiert der Mann aus Paraíba. "Nachfahren einer kolonialistischen Kultur wie Peter Gabriel und Paul Simon können andere Kulturen betrachten, die für primitiv und rückständig gehalten werden, aber in der Realität schöpferisch sind, und aus ihnen eine neue Musik entwickeln. Wenn aber ein Nachfahre eines Stammes aus Guinea oder einer kleinen Stadt aus Paraíba kommt und sagt: ‚Ich will die Technologie, ich will die großen Studios, damit ich eine Musik machen kann, die der Welt etwas über mich und meine Leute mitteilt’, dann wird oft darüber gespöttelt."

Seine schlagkräftigste Antwort auf das Marktdiktat des Westens ist das neueste Elaborat Respeitem Meus Cabelos, Brancos! Global verständlicher Pop mit knackigem Esprit im Sound, Aufrichtigkeit in den Texten und rhythmischen und melodischen Eigenheiten des Mutterbodens. Eine reife Meisterleistung, für die als Produzent der Schweizer Will Mowat gewonnen wurde. Der Pultmeister hat einschlägige Brasilien-Erfahrung, denn er brachte schon handfesten, tanzbaren Groove in die Alben von Daúde und Fernanda Abreu, zeichnete sogar für weite Teile von "Sol Da Liberdade", Daniela Mercurys magnum opus, verantwortlich. Mowat hatte César 2000 in London kennengelernt und dort starteten auch die Aufnahmen, unter anderem mit Nina Miranda (Smoke-City), deren Stimme im Finaltrack verewigt ist. In Paraíbas Kapitale João Pessoa fing man die funkig-fokloristischen Beiträge der Blaskapelle Metalúrgica Filipéia ein, perkussive Unterstützung kam von Bahias Carlinhos Brown aus Salvador und seinem jazzigen Counterpart Nana Vasconcelos. Als größter Überraschungsgast jedoch fand sich am Zuckerhut MPB-Gigant Buarque zu einem Duett der "zwei Chicos" bereit. Die Kernbesetzung von Césars Band schließlich bildet das stabile Rückgrat der Tracks: Der kongeniale Gitarren- und Bass-Partner Swami Jr., der ihm seit der "Cuscuz Clã"-Epoche zur Seite steht, sowie Keyboarder + Akkordeonist Marcelo Jeneci und die Perkussionisten Guilherme Kastrup und Marcos Suzano, letzterer das schlagwerkende enfant terrible in Brasilien schlechthin und unter anderem auch Studiopartner von Lenine.

Folgende Titel seien als Anspieltipps an Ohr und Herz gelegt:

- (1) "Respeitem Meus Cabelos, Brancos" (hes'petëi 'meus ca'belus 'brancos):

Das Titelstück, ein funkiger Reggae samt Bläsersatz und Chor, ist nicht nur eine trotzige Entgegnung auf die penetrante Journalisten-Frage nach Chicos exotischer Haarpracht, die immer mit der der afro-brasilianischen Gottheit Omulu verglichen wurde. Vielmehr ist es eine packende Hymne auf den Respekt des Anders- und Einzigartigen, auf Individuen, die ein Ergebnis der Völker- und Meinungsvielfalt darstellen: "Meine Haare kamen aus Afrika, zusammen mit meinen Heiligen, wenn ich meine Haare kraus tragen möchte, wenn ich sie drehen oder färben will, dann lass mich doch, lass die Strähnen wippen!"

- (2) "Antinome" (anti'nohmi):

ein melancholisches Duett mit Chico Buarque, in dem sich nordöstliche Farben in Toninho Ferraguttis Akkordeon spiegeln und Marcos Suzano einen tablagefärbten, treibenden Rhythmus darunter legt.

- (7) "Sem Ganzá Não É Coco" (sëi gan'sa nau ä 'koko):

Hier kommt die Embolada, Brasiliens archaischer Rap, schön zur Geltung. Chico legt für sie eine unvergleichlich näselnde Vokalfarbe, das Ganze wird aufgefüllt mit den swingenden Intermezzi der nordöstlichen Blascombo. Eine spritzige Hommage an den Coco, einen der unbekannteren Rhythmen NO-Brasiliens.

- (10) "Templo" ('templu): Eine Neuinterpretation aus dem legendären ersten "Aos Vivos"-Album. Schon in den ersten Takten erweist sich Chico César als Meister der gefühlvollen Töne, der seine Wortakrobatik auch mal für schlichte Liebesverse eintauschen kann: "Wenn du mich anschaust, dann schmelze ich wie Schnee auf dem Vulkan - Inka, Maya, Pygmäen, mein Stamm hat mich verloren, als ich den Tempel der Leidenschaften betrat." Eine fernöstlich angehauchte Ballade, die durchaus an den Hit "A Primeira Vista" heranreicht.

Die Songs von "Respeitem Meus Cabelos, Brancos" kehren Chicos kreativste Kräfte anch außen. Party-Reggae gekoppelt mit starken Statements, romantisches Schwelgen ohne Kitsch und das Zelebrieren der nordostbrasilianischen Tradition - vereinigt unter dem Dach einer Pop-Produktion mit internationalem Anspruch.

 

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